Das ist unerhört!
Die Öffnungszeiten des Kindergartens werden reduziert. Die ersten erbosten Mails von Eltern gehen bei uns ein: Wie kann der Evangelische Verein es wagen? „Wir können Sie derzeit leider nicht mit unserer Diakoniestation versorgen, Sie müssen einen anderen Pflegedienst suchen.“ – Fassungslosigkeit am Telefon.
Wir blieben unerhört!
Seit über 20 Jahren reden wir im sozialen Bereich von der demographischen Veränderung unserer Gesellschaft und dass es immer mehr pflegebedürftige Menschen geben wird. Der zunehmende Fachkräftemangel ist schon lange Thema. In politischen Foren und gesellschaftlichen Debatten kam all dies zur Sprache – dass es Wirklichkeit werden wird, haben die meisten verdrängt. Heute erleben wir alle die Konsequenzen.
Es ist unerhört, was ich jetzt sage:
Die Frauen werden es ausbaden. Anstatt beruflicher Erfolg werden die Erziehung der eigenen Kinder und die Versorgung der älteren Generation wieder im Mittelpunkt stehen. Ganz ehrlich: Das hat sich doch in der Corona-Zeit gezeigt, dass überwiegend Frauen die Belastung von Kinderbetreuung, heimischem Unterricht und den Herausforderungen des eigenen Berufs gemeistert haben. Und wenn die Kinder erwachsen sind, kommt die Versorgung der eigenen Eltern. Wieder ein Spagat, der zu meistern ist – vielleicht gibt es von Angehörigen irgendwann ein „Versorgungs-Burnout“?
Schon wieder unerhört!
Der Fachkräftemangel ist mitten in der Gesellschaft und in allen Bereichen angekommen. Ein Zugausfall führt, salopp gesagt, zu kalten Füßen und einem Murren auf dem Bahnsteig. Doch wenn Kinder keinen Kindergartenplatz mit ausreichender Betreuungszeit erhalten oder das System Kindergarten an Qualität und Verlässlichkeit verliert, werden Familien zunehmend belastet und die Entwicklung der Kinder beeinträchtigt. Was machen wir in 15 – 20 Jahren, wenn die Zahl der hochbetagten Menschen noch extremer angestiegen ist und die Anzahl der Pflegekräfte nicht ausreicht? Kaum ein Politiker will es hören und nach Lösungen suchen.
Unerhört – die ersten machen dicht:
Das katholische Hospiz in Stuttgart hat bereits aufgrund von Fachkräftemangel vorübergehend die Türen geschlossen (Stand Dezember 2022*), Krankenhäuser schließen Stationen und Intensivbetten können nicht belegt werden. Der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz kann oft nicht umgesetzt werden, Kindergartengruppen reduzieren Öffnungszeiten, der Personalschlüssel in den Einrichtungen darf abgesenkt und fehlende Erzieher:innen durch eine höhere Zahl an nicht-pädagogischen Kräften ersetzt werden.**
Wann verstehen wir endlich,
dass unsere soziale Sicherheit nicht für „billig“ zu haben ist? Wann verstehen wir endlich, dass die Mitarbeiter:innen in Pflege und Kindertageseinrichtungen bessere Arbeitsbedingungen und Aufstiegschancen brauchen? Aber es gibt keinen Aufschrei, unsere Gesellschaft und viele von uns setzen andere Maßstäbe.
Wir als Evangelischer Verein wünschen uns, dass gesehen wird, dass mit einer vorausschauenden, mutigen Bildungs- und Familienpolitik alle gewinnen und wir durch das Engagement und die Veränderungsbereitschaft heute unsere Zukunft von morgen sichern. Wir wünschen uns ein gutes Aufwachsen für unsere Kinder, damit sie starke Erwachsene und bereichernde ältere Menschen werden, denen ein würdiger Lebensabend bevorsteht. Denn ist das nicht auch unser aller persönlicher Wunsch?
Beitrag von Axel Wilhelm, Diakonischer Vorstand
im Gemeindebrief März | April | Mai 2023 der Evang. Kirchengemeinde Fellbach
*Quelle: bit.ly/3XmhR59, 10.01.2023 | **Quelle: bit.ly/3k43W5D, 10.01.2023